Sehnsucht nach Normalität haben wir! Nach unbeschwertem Zusammensein, nach freundschaftlichen Begrüßungen und Umarmungen, ja sogar nach der Schule und dem „ganz normalen“ Arbeitsalltag anstelle von Homeoffice oder Online-Unterricht.
Für all diejenigen, die beruflich für die Grundversorgung der Bevölkerung oder in medizinischen und pflegerischen Berufen tätig sind, und für viele Handwerksbetriebe gab es bisher keine Corona-bedingte Auszeit. Sie gehören zu den „systemrelevanten Berufsgruppen“, haben durchgearbeitet, kümmern sich um unsere alt gewordenen Eltern, versorgen Kranke, sorgen für Wasser, Strom, Müllabfuhr, unser leibliches Wohlbefinden und Reparaturen aller Art.
Die meisten von uns hätten ihren vertrauten Alltag vermutlich gern wieder. Da wussten wir, wer wir sind und was von uns erwartet wird, und konnten das auch leisten. Manches an unserer „Normalität“ finde ich allerdings höchst fragwürdig. Zum Beispiel: 10.000 obdachlose Menschen leben allein in Berlin auf der Straße. Auch in Göttingen sind es nicht wenige. Wir haben uns daran gewöhnt. Geben eine Kleinigkeit oder schauen weg. Denken vielleicht: „Die haben selber Schuld“ oder verlassen uns auf diakonische Einrichtungen.
Wir empfinden es als „normal“, dass sich die „Schere“ zwischen Armen und Wohlhabenden in Deutschland seit vielen Jahren immer weiter öffnet. Teilhabepakete und andere Maßnahmen haben daran nichts Grundsätzliches geändert. Die Löhne mancher Arbeitnehmer*innen sind selbst bei voller Stundenzahl so niedrig, dass ihre Altersarmut schon vorprogrammiert ist. Was tun wir dagegen?
Und was ist mit der ökologischen Katastrophe, auf die unsere Welt zusteuert, weil wir, besonders in den „fortschrittlichen“ Industrienationen über unsere Verhältnisse leben? Die Trockenheit auf den Feldern und im Garten ist schon jetzt wieder unübersehbar. Steht ein neuer Dürre-Sommer bevor?
Die letzten Wochen haben uns immerhin Vertrauen in die Politik zurückgegeben. Wir merken: da wird anders miteinander geredet. Mehr suchend als selbstsicher. Irgendwie ehrlicher und transparenter. Da wird beraten und gerungen um das, was wir angesichts des nach wie vor lebensbedrohlichen Virus riskieren können und was nicht.
Wenigstens an dem Virus haben wir keine Schuld, oder? Kommt es nicht von einem chinesischen Fischmarkt und wurde auf Menschen übertragen? Oder – Verschwörungstheorien sind unausrottbar – stammt es etwa aus einem Labor?
Seit langem denke ich bei dieser Pandemie, die uns alle weltweit heimsucht, an einen Satz aus dem Brief an die Römer, in dem auch von „allen“ die Rede ist: „Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen,“ heißt es im 23. Vers im Brief an die Römer im 3. Kapitel.
Das heißt: wir allesamt haben uns nicht mit Ruhm bekleckert. In Schulnoten ausgedrückt lägen wir bei 5-6. Ruhm bei Gott zu haben bedeutet übrigens nicht, der oder die Frömmste zu sein, sondern mitmenschlich zu sein. So ist Gott in Jesus Christus zu uns gekommen und dafür wollte er uns gewinnen: für ein mitmenschliches und auf Gott vertrauendes Leben.
Mitmenschlich sein bedeutet: unsere Mitmenschen gehen uns an. Die Starken und die Schwachen, die Kinder und die Alten. Die Menschen in den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt gehen uns an – und auch die Frage, wer von ihrem Leid profitiert. Die Schöpfung geht uns an. Sie fragt nach unserem aufrichtigen Beitrag für ihren Erhalt. Gott geht uns an. Wir sollen nicht frömmer werden, sondern menschlicher, Menschen „nach seinem Bilde“.
Corona ist meiner Meinung nach nicht unsere größte Herausforderung. Corona dient meines Erachtens nur dazu, uns daran zu erinnern, mitmenschlich zu sein.
Gott will nicht unsere Furcht, sondern unsere Ehrfurcht vor dem Leben.
Wie gut, dass Vers 23 im 3. Kapitel des Briefes an die Römer eine Fortsetzung hat. Zusammen mit dem nächsten Vers heißt es: „Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Jesus Christus geschehen ist.“ Gott ist barmherzig. Mit uns und unseren Sünden. Und dennoch eindeutig und parteiisch. Aus eigener Kraft erlösen wir uns nicht. Aber mit Gottes Hilfe können wir neue, mitmenschliche und die Schöpfung bewahrende Wege einschlagen.
Darin bestärkt uns auch der Name des kommenden Sonntags: Misericordias Domini bedeutet „Erbarmen Gottes“. Erbarmen, das zum Umdenken reizt.
Mit herzlichen Grüßen,
Pastorin Simone Mertins